Offene Türen

Um vor der Nachtschicht noch eine Mütze Schlaf zu nehmen, begab ich mich nachmittags ins Gästehaus. Den Fahrstuhl hoch, den Flur entlang - was ist das! Die Tür zu unserer Gemeinschaftswohnung steht offen! Und ebenso alle Zimmertüren innen. Dabei war ich mir gewiß, wegen des offenen Fensters wenigstens die Tür zu meinem Zimmer zugemacht zu haben! - Ich neige im allgemeinen nicht dazu, panisch zu reagieren, aber nun suchte ich doch schnell den möglichen Schaden zu ergründen: Mein Walkman und alles andere ist noch da, ebenso die Sachen meiner Kollegin, es scheint nichts zu fehlen. Den Kollegen, der erst an diesem Tag angereist ist, rufe ich an. Aber auch er ist sich sicher, abgeschlossen zu haben.

Nun gut, ich mache mich lang, schlafe zwei Stunden und liege eine weitere mit Tagträumen wach. Langsam wird es Zeit. Ich fange an, neben der Uhr andere Dinge im Raum wahrzunehmen. Und da überkommt mich ein schlagartiges Glücksgefühl. Alles, was ich jetzt in vielen Worten nacheinander darlegen muß, ist augenblicklich in mir präsent.

Da hängt ein Bild!

An der Wand gegenüber meinem Bett hängt ein Bild, ein Kunstdruck im simplen Holzrahmen, aber ein Bild! Das war heute morgen noch nicht da. - Wurden jetzt im ganzen Haus Bilder aufgehängt? Hat irgendein wohlmeinender Unbekannter (jener magische Chidr aus der Sufi-Tradition, auf den ich in Lothar Reschkes Ideenmagazin am Vortag gestoßen war), gerade mir ein Bild gebracht und die Tür absichtlich offengelassen, um zu ... - aber das kommt später!

Warum dieses Erlebnis etwas dermaßen Überrumpelndes hatte, wurde mir erst allmählich verständlich, als ich mir klarmachte, auf welch verschiedenen Ebenen mich in diesem Augenblick die Freude über das Bild durchflutete.

Da war zunächst der Zuwachs an Wohnlichkeit. Wir hatten schon mitunter Kalenderblätter mit Tesa an die Wand gepappt - aber ein richtiges Bild unter Glas und im Rahmen ist doch etwas anderes! Und daß der Arbeitgeber Bilder spendiert, ist ja dann auch etwas geradezu Unglaubliches!

Dann war da die Erleichterung, daß die offene Tür sich erklären ließ: Vielleicht hatte der Bilder-Bringer noch einmal wiederkommen wollen, vielleicht hatte er das Abschließen einfach vergessen, und der Wind hatte dann die Tür aufgedrückt. Es fehlte ja eh' nichts, nur eine Erklärung des Unerklärlichen hätte man schon noch gern gehabt!

Und schließlich - aber das muß mir schon im ersten Augenblick klar gewesen sein, sozusagen wie in einer Schau des Ganzen - bemerkte ich, was für ein unvergleichliches Symbol dieser Vorgang für unser, für mein Leben darstellte: Wir schotten uns ab hinter Wänden und Türen, die wir nur zweckgebunden - und bitteschön selbst! - dann und wann öffnen. Die offene Tür löst unmittelbar Bedrohungsphantasien aus: Das Leben ist feindlich und will uns was nehmen! - Es mag haufenweise biologische und soziale Rechtfertigungen für diese Angsthaltung dem Leben gegenüber geben... Aber das Leben will nicht nur nehmen, es will auch geben. Wohl dem, der seine Türen zu öffnen versteht.

Es spielte dann keine Rolle mehr, daß ich später auch in den anderen Räumen Bilder fand, daß ich erfuhr, daß heute im ganzen Haus Bilder aufgehängt worden seien. "Mein Bild" (und alle anderen) hatten natürlich schon gehangen, als ich nachmittags gekommen war - aber die Panik der offenen Tür hatte mich blind gemacht, sie zu sehen. Erst ausgeruht (und mit den Gedanken der letzten wachen Stunde im Kopf, die wie massierendes Lösen um gewisse problematische Geschehnisse in der Vergangenheit gekreist hatten) war ich fähig gewesen, meine "Tore der Wahrnehmung" zu öffnen.

Chidr hatte mich besucht und die Tür offengelassen, damit ich ein wenig von der Wahrheit schauen konnte!

Nachtrag: Erst zwei Wochen später kam mir die doch eigentlich viel näherliegende Assoziation zum Advent in den Sinn: "Macht hoch die Tür, die Tor' macht weit! Eu'r Herz zum Tempel zubereit'!".


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Last revised: 14-apr-19